Die Idee, auf Visitenkarten auch fotografische Portraits zu drucken, wurde 1854 in Paris patentiert. Als auch Napoleon III. (1808-1873) solche Cartes de Visite von sich und seiner Familie in Umlauf brachte, begann eine regelrechte »Visitenkartenepidemie«. Fotoateliers in ganz Europa spezialisierten sich auf die handlichen Kleinformate. 1857 kamen allein in Göttingen auf damals 10.000 Einwohner*innen fünf Studios, die Cartes de Visite herstellten. Spätestens jetzt hatte auch für das Genre Portrait das fotografische Zeitalter begonnen.
EIN BÜRGERLICHES MEDIUM
Standardisierte Herstellung und Formate machten die Cartes de Visite auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Besonders für das Bürgertum wurden sie zu einem passenden Medium, sein wachsendes Selbstbewusstsein sichtbar zu machen. Draperien, Säulen und edles Mobiliar sorgten in den Fotostudios für ein geeignetes Ambiente, knüpften an Motive aus Herrscherbildnissen an, setzten aber auch die gehobene bürgerliche Wohnkultur in Szene. Ideeller Anspruch und materieller Besitz schrieben sich in die bürgerliche Selbstdarstellung ein.
DER WISSENSCHAFTLER ALS BÜRGER
FotografischeVisitenkarten rückten auch Gelehrte in ein neues Licht. An die Stelle des Professors als Mitglied einer akademischen Gemeinschaft, die sich der Bewahrung und Weitergabe der Tradition verpflichtete, trat die individuelle Forscherpersönlichkeit. Bürgerliche Tugenden wie Leistung, Arbeit und Disziplin ersetzten Talar und akademische Insignien. Anzug und Haltung machten den Gelehrten zum Bürger.