04 Silhouetten
Der Schattenriss, als Scherenschnitt oder Zeichnung ausgeführt, war zwischen 1760 und 1830 in bürgerlichen und adeligen Kreisen sowohl unter Männern wie Frauen äußerst populär. In Salons und privaten Freundschaftszirkeln waren Silhouetten als leicht und günstig herzustellende Portraits beliebte SammelundTauschobjekte. Mechanische Hilfsmittel wie Silhouettierstühle oder Instrumente zur maßstabsgetreuen Verkleinerung des Schattenrisses waren weit verbreitet.
ANTIKENREZEPTION UND SCHATTENRISS
Gemäß der klassizistischen Kunstauffassung verband sich die Silhouette mit dem antiken Mythos von der Entstehung der Portraitkunst aus dem Schattenbild. Man übte sich in einer vermeintlich archaischen Praxis und erzeugte Bilder, die der griechischer Vasenmalerei glichen, welche im 18. Jahrhundert wiederentdeckt und künstlerisch aufgewertet wurde. Die handtellergroßen Portraits genossen daher auch unter Gelehrten einen ausgezeichneten Ruf. Durch das Sammeln von Silhouetten konnte man sich als Kenner antiker Kunst ausweisen.
VOM SILHOUETTIERSTUHL ZUM BEICHTSTUHL
Auftrieb erhielt das Silhouettieren überdies durch die Versuche des Pfarrers und Philosophen Johann Caspar Lavater (1741-1801), Schattenbilder als Ausdruck des menschlichen Charakters zu lesen. Er reduzierte Gesichter auf mechanisch erzeugte Profillinien und schloss dann von der äußeren Erscheinung auf die inneren Eigenschaften der portraitierten Menschen. Das Studieren einer Silhouette wurde nach dieser Theorie, die nicht unumstritten blieb, zur scheinbar objektiven Seelenschau.
Die zwölf hier ausgestellten Silhouetten stammen aus dem Freundschaftsalbum des ungarischen Studenten Gregorius von Berzeviczy (1763-1822), der bei seinem studienbedingten Aufenthalt in Göttingen 41 Schattenrisse damaliger Göttinger Professoren, einiger ihrer Ehefrauen sowie namhafter Kommilitonen sammelte. Silhouetten aus dem Freundschaftsalbum des Gregorius von Berzeviczy, Künstler unbekannt, um 1784-86, Silhouetten, Kunstsammlung der Universität Göttingen.
Bildtafel zur maßstabsgetreuen Verjüngung einer Silhouette, Friedrich Christoph Müller: Ausführliche Abhandlung über die Silhouetten und deren Zeichnung, Verjüngung, Verzierung und Verfielfältigung, Frankfurt/Leipzig 1780, Tafel x, Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur DD90 A 33227.
Das Silhouettieren
Ihre Popularität verdankten Silhouetten auch ihrer relativ einfachen Herstellung. Anleitungsbücher ermöglichten auch Laien das Schattenreißen. Zusätzlich machten technische Hilfsmittel die Herstellung zu einem beinahe mechanischen Verfahren: Ein spezieller Silhouettierstuhl half, den Kopf der oder des Portraitierten zu fixieren, sodass der Schattenwurf mittels einer Kerze auf transparentes Papier geworfen wurde. Mit dem sogenannten „Storchenschnabel“ konnte der lebensgroße Schatten maßstabsgetreu verkleinert und anschließend mit Tusche ausgemalt werden. Erst die Fotografie verdrängte die Silhouette, und die Carte de Visite wurde nunmehr zum wichtigsten Sammel- und Tauschmedium für Portraits.
Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 1, Leipzig/Winterthur 1775, Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Signatur 4 ZOOL XI, 1907:1 RARA.
Lavater und Haller: Das „Urbild des Gelehrten“
In seinem vierbändigen Hauptwerk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ (1775–1778) war Johann Caspar Lavater nicht nur an einer Entsprechung von äußerer Erscheinung und innerem Wesen eines Menschen interessiert. Er versuchte auch, vom individuellen Fall zu abstrahieren und Menschentypen zu konstruieren. So galt ihm der Schattenriss des Göttinger Gelehrten Albrecht von Haller (1708-1777) geradezu als Urbild von Gelehrsamkeit. Seine Beschreibung der Silhouette von Hallers im ersten Band seiner „Physiognomischen Fragmente“ macht dies deutlich.
Die Wahrheit der Silhouette?
Albrecht von Haller äußerte sich sehr zurückhaltend gegenüber der überschwänglichen Beschreibung seines Profils durch Lavater. In den „Göttingischen Anzeigen“ von 1776 bemerkt er: „…wie dann [meiner] Silhouette Herr L. eine Menge von Eigenschaften wahrnimmt, die er aus [meinen] Schriften erkennt zu haben vermuthlich sich versichert, die uns aber viel zu fein vorkommen, als daß man sie in einem Schattenrisse unterscheiden könnte; wie z.E. das beständige Calculiren, bey einem dennoch heiteren und poetischen Genie.“