09 Karikaturen

Aus Karikaturen spricht Kritik. Anders als bei Auftragsportraits haben die Dargestellten keine Kontrolle über ihr Bildnis, sondern sind zeichnerischen Attacken auf ihre Person ausgesetzt. Spezifische Eigenschaften werden durch Übertreibung oder ins Bild gesetztes Beiwerk hervorgehoben und der Lächerlichkeit preisgegeben.

KRITISCHE BLICKE
Als Karikaturist*innen treten seit dem 19. Jahrhundert vermehrt Laien auf – an der Universität insbesondere Studierende. Mit ihren Darstellungen zeichnen sie ein inoffizielles und bisweilen subversives Bild der Universität »von unten«. Zugleich entdecken auch professionelle Künstler*innen mit der Karikatur ein neues Genre, das sich in der zunehmend bürgerlich liberalisierten Gesellschaft großer Beliebtheit erfreut.

BEDEUTUNG ENTSCHLÜSSELN
In den grafischen Zuspitzungen und ironisch-spöttischen Details von Karikaturen stecken verschlüsselte Bedeutungen. Um den Bildwitz zu verstehen, mussten schon die Zeitgenossen um die Ecke denken. Für das heutige Verständnis ist es daher wesentlich, die Bilder vor der Folie ihrer Entstehungskontexte zu betrachten.

Karikatur von Friedrich Christoph Dahlmann, Friedrich Eduard Ritmüller, o. Datum, Federzeichnung über Bleistift auf Papier, 343 x 262 mm, Kunstsammlung der Universität Göttingen, Inv.Nr. H 1962/1

Oesterley: gottesfürchtiger Kopist?

Als Kopist gezeigt zu werden, ist ein hartes Urteil über Carl Oesterley (1805-1891), der in Göttingen Professor für Kunstgeschichte und seit 1844 zugleich königlich-hannoverscher Hofmaler war. In Rom geschult und in Nazarener Kreisen verkehrend, war seine Kunst romantisch-religiös geprägt. Kniend wie zum Gebet hat er sich eingeschlossen, um eine Kreuzigung Christi aus dem Jahr 1559 in altmeisterlicher Manier auf die große Leinwand zu übertragen – Planquadrat für Planquadrat. Weitere Originale liegen im „Componier-Korb“ bereit. Der Vorwurf des religiös verklärten Anachronismus reicht bis in Ritmüllers Stileinsatz hinein: Auch seine Zeichnung ist in diesem Fall akribisch naturalistisch.

Dahlmann Diaboli?

Als Ernst August I. von Hannover 1837 das erst vier Jahre junge Staatsgrundgesetzt des Königreichs aufhob, war Friedrich Dahlmann (1785-1860) Hauptverfasser der Protestschrift, die den als „Göttinger Sieben“ bekannt gewordenen Professoren ihre Amtsenthebungen einhandelte. Seit 1829 Professor für Staatswissenschaften, war der Historiker mit den markanten Koteletten im Vormärz ein Protagonist des Liberalismus. Ritmüller zeigt ihn als zwielichtige Figur: Einerseits stützt er sich Moses-gleich auf sein Staatsrecht. Die hornartig stehenden Haare seines überdimensionierten Kopfes, die klauenartigen Hände und übergroßen Füße, lassen ihn aber auch wie einen teuflischen Rechtsgelehrten erscheinen, der als „Advocatus diaboli“ im Staate umgeht.

Gauß: Wunderkind oder wunderlicher Gelehrter?

Zu Ehren gekommen, wurde Gauß selbst zum Gegenstand einer Karikatur, die ihn wiederum verkindlicht: Ritmüller zeigt den Mathematiker mit dem Kopf eines Erwachsenen, der auf einem kindlich kleinen Körper sitzt. Gekleidet nur in „Nanking“-Baumwolle,  sei er für niedrige Temperaturen falsch angezogen, wie seine Tochter aus dem Hintergrund bemerkt. Doch das Physik-Genie verbindet mit der chinesischen Stadt Nanking eine geomagnetische Messstation und denkt an zeitlich messbare Schwankungen im Erdmagnetfeld: „2 1/3 Sekunden später“. Das globale Netzwerk des Göttinger Magnetischen Vereins war zur Entstehungszeit der Zeichnung ein heißes öffentliches Thema.

Kästner in den Augen seines Schülers

Der angehende Mathematiker und Physiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855), bereits zu Lebzeiten zum Wunderkind stilisiert, war auch zeichnerisch nicht unbegabt. Das ganzfigurige Profilbildnis seines Lehrers Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800), den er mit Zirkel und Lineal ausstattete, ist ambitioniert, auch wenn die perspektivische Darstellung des Tisches misslingt und er für die Gesichtslinie am Rand eine Vorstudie benötigte. Der Witz allerdings steckt in der simplen Addition auf der Tafel, deren Lösung schlicht falsch ist: Der Lehrer disqualifiziert sich auf inhaltlicher Ebene, der karikierende Schüler erhebt sich über ihn.

Karzer-Kritzeleien eines inhaftierten Studenten

Hinter der verschlossenen Karzertür sollten Studierende in Unfreiheit ihre Verfehlungen sühnen. Die Isolationshaft entpuppte sich aber auch als Freiraum der Meinungsäußerung, die sich in zahllosen Kritzeleien an den Wänden niederschlug. Ein anonymer Student nahm z.B. den Meteorologen Ernst Klinkerfues (1827-1884) aufs Korn. Zur Portraitmalerei genügte sein Zeichentalent nicht, sodass die Instrumente der Forschung den Professor „Klinkerbein“ vertreten: Das Fernrohr seiner täglichen Himmelsbeobachtung verwandelt sich allabendlich in eine Weinflasche. Im Schutz der Kerkerzelle wird der Professor von der wissenschaftlichen Autorität zum Säufer degradiert.

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